Gold und Zucker im Eldorado
Alice Henkes

Wenn am Abend ein Goldton Himmel und Erde überglänzt, kann einem andächtig ums Herz werden: Wie schön die Welt ist! Im Video von Doris Muster strahlt das Gold nicht vom Himmel herab, sondern es bedeckt, als dünne Folie, Bäume in üppiger Vegetation. Die Goldfolie erinnert im ersten Moment an Christo und Jeanne Claude und erzeugt eine Stimmung des Geheimnisvollen und Verlockenden. Was ist das für ein goldener Garten, in dem das Licht so wunderbar tanzt und flimmert? Wo ist das Tor, das in diesen Garten führt?

Die Landkarte unseres kollektiven Bewusstseins kennt viele Sehnsuchtsorte: das Paradies, Shangri-La, das Schlaraffenland und Eldorado, das sagenhafte Goldland im nördlichen Lateinamerika. Diese Orte eint, dass sie imaginär sind. Und sie sind zumeist so beschaffen, dass sie eine Flucht aus der realen Welt versprechen: die Regeln von Politik und Gesellschaft, Leistung und Warenerwerb sind ausser Kraft gesetzt. Der Mensch kann ganz Mensch sein.

Anders ist es nur in Eldorado. Dort kann, salopp gesagt, jeder ins Karussell des Kapitalismus einsteigen und in Nullkommanichts vom Tellerwäscher zum Millionär werden, ohne auch nur die Spülbürste in die Hand zu nehmen. In Eldorado liegt das Gold gewissermassen am Wegesrand. Man muss sich nur bücken! Und schon ist man ein reicher Mensch. Wohlfeiler sind Geld und Macht nicht zu haben. Und in den europäischen Gesellschaften waren diese beiden Komponenten schon immer unzertrennlich: Wo Reichtum ist, ist auch Herrschaft. Zwar schmückt Herrschaft sich heute nicht mehr mit Fürstentiteln und Juwelen, aber die Verbindung von Macht und Geld ist solide.

In der Videoarbeit von Doris Muster liegt das Gold nicht im oder am Boden. Es hängt in den Bäumen, es umschlingt sie, umdrängt sie. Hier wächst das Gold gewissermassen an den Ästen und fällt einem in blanken Stücken in die Taschen. Oder verhält es sich hier eher so wie in der Sage vom König Midas, unter dessen gierigem Griff sich alles, was er berührt, in Gold verwandelt? Der Apfel, den er essen will, das Stück Brot, das er zum Munde führt, der Vogel, der eben noch so schön sang, die duftende Blume, ja, am Ende sogar die eigene Tochter. Auch im Video von Doris Muster hat man manchmal das bange Gefühl, dass das Gold sich immer weiter ausbreitet. Grosse Gebilde aus Goldfolie gleiten wie schwimmende Steine durchs Bild. Und der Leguan, der echsenhaft ruhig steht, wird der sich womöglich auch noch in Gold verwandeln?

Gold ist in der Arbeit von Doris Muster keine Metapher für eine reiche oder schöne Natur. Oder gar für einen besonderen Seelenzustand – man denke an das Herz, das treu wie das Gold ist. Gold steht in dieser Arbeit für Gold, für den Glanz des Edelmetalls, von dem die europäischen Eroberer sich blenden liessen, für den Wert, den sie dem Gold beimassen, für die Dringlichkeit, mit der sie nach dem goldenen Land suchten.

Im Grimm‘schen Märchen von Frau Holle springt die arme aber fleissige Stieftochter in einen Brunnen hinab, weil ihre Spindel hineingefallen ist. In der Unterwelt hat sie allerlei Aufgaben zu bewältigen. Und weil sie so arbeitsam ist, wird sie am Ende reich belohnt: Bevor sie wieder nach Hause kommt, passiert sie ein Tor, aus dem es Gold auf sie herabregnet. Als die von der Mutter verhätschelte Stiefschwester es ihr gleichtun will, regnet es Pech statt Gold. Warum? Sie war faul.

Faulheit im engeren Sinn kann man den Eroberern nicht unbedingt zuschreiben. Ja, gewiss, sie waren verlockt von der Aussicht, sich das Gold quasi von den Bäumen zu pflücken, um es mit den Bildern des Videos zu zeigen. Doch sie nahmen grosse Strapazen in Kauf, um das sagenhafte Goldland zu finden. Zahlreiche Expeditionen durchkämmten den Amazonas auf der Suche nach Eldorado. Berühmt wurde die Expedition von 1560/61, die von Pedro de Ursúa und Lope de Aguirre angeführt wurde. Knapp die Hälfte der 300 Expeditions-Teilnehmer verstarb und Aguirre wurde später zum Sinnbild des grausamen und wahnsinnigen Eroberers. Werner Herzog lässt Klaus Kinski den Besessenen in seinem Film „Aguirre, der Zorn Gottes“ (1972) verkörpern.

Die Eroberer drangsalierten auf der Suche nach dem Land des Goldes bekanntermassen nicht nur Ihresgleichen, also die Menschen, die sie auf ihren Schiffen aus Europa mitgebracht hatten, sondern vor allem die Einheimischen, die als eine Art lebendiger aber unpersönlicher und austauschbarer Arbeitsgeräte angesehen wurden. Die Eroberer fühlten sich moralisch im Recht: Hatten sie nicht den einzig wahren und wahrhaftigen Gott auf ihrer Seite? Und was wussten die Menschen im Amazonasgebiet mit dem Gold anzufangen? Ausser es ihren zweifelhaften Göttern zu opfern?

Das Video deutet die grausame Geschichte des Kolonialismus an, eröffnet aber neue Wendungen. Es führt aus dem vergoldeten und damit gleichsam vergifteten Garten in eine goldene Hütte und zu indigenen Frauen, die zum Teil wie in Gold „verpackt“ erscheinen, sich jedoch aus dieser Hülle von Gier und fremden Zuschreibungen befreien, indem sie den Aufbruch wagen. Das zumindest könnte eine Lesart des Endes sein, das einen Weg zeigt, dabei aber offen lässt, wohin dieser Weg führt.

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Zucker und Gold im Eldorado

So lautete der Titel einer Reise für Alumni der Universität Zürich, welche zwar nicht zustande kam wegen ungenügender Anmeldungen. Er hatte mich zur sofortigen Anmeldung verlockt und zu einer Gold-Installation inspiriert, nachdem wir uns entschieden hatten, dieses uns völlig unbekannte Land auf eigene Faust zu entdecken.

Eldorado, ein magisches Land im nördlichen Südamerika, wurde nie gefunden. Sagenhafte Goldschätze lockten immer wieder erfolglose Entdecker und Abenteurer. Berühmtestes Objekt des Eldorado Mythos ist das Goldfloss von Guatavita, heute im Museo del oro der Banco de la Republica in Bogotà.

„Surinam schwimmt im Gold. Das Edelmetall ist für das Land äusserst wichtig, doch mittlerweile ist eine inoffizielle Goldindustrie entstanden, die keine Regeln kennt. Der Urwald wird gerodet, die im Wald lebenden Kreolen werden vertrieben und die Natur wird mit Quecksilber vergiftet. Das Gold spaltet Surinam, denn die Untergrundorganisationen haben Verbindungen zu den mächtigsten Personen des Landes.“ Zitiert nach Niederlandenet, Universität Münster, 2018.

In Suriname, einer ehemaligen niederländischen Kolonie, seit 1975 unabhängige Republik, leben hauptsächlich die Nachkommen von Sklaven aus vier Kontinenten, die in den Zucker- und Kaffeeplantagen arbeiteten. Deren Lebensumstände beschreibt und zeichnet der schottisch-niederländische Soldat John Gabriel Stedman in seinem Tagebuch (Narrative of a five years’ expedition against the revolted negroes of Surinam, 1791).

Anton de Kom, ein antikolonialistischer Autor und Namensgeber der örtlichen Universität, schrieb das erste Buch (We Slaves Of Suriname, 1934) über die Sklaverei aus Sicht der Betroffenen.

Mein Film verarbeitet meine persönliche Auseinandersetzung mit diesem Land und seiner Geschichte. Sie verhalf mir darüber hinaus auch zur Verknüpfung mit dem westlichen Mythos des Grals: „Das Schmieden des Rings aus dem Gold der Rheintöchter bedeutet den Verlust einer naturhaften Unschuld und letztlich den Beginn von Privateigentum.“
(Homoki im Gespräch über „Das Rheingold“ von Richard Wagner)
Der Ring stehe für den Materialismus der Geldwirtschaft, und wer das Geld habe, der habe die Macht. Was auf der Strecke bleibt, das sei die Liebe.

Bremgarten, Mai 2022